Recht und Migration. Ein Vergleich der Rechtssysteme

Recht und Migration. Ein Vergleich der Rechtssysteme

Organisatoren
Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven; Amtsgericht Bremerhaven
Ort
Bremerhaven
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.05.2008 - 16.05.2008
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Von
Karin Hess, Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven

Die zweitägige Fachtagung „Recht und Migration. Ein Vergleich der Rechtssysteme und -geschichte der größten westlichen Einwanderungsländer“ bildete den Auftakt zu der Reihe „Recht und Migration“ und wurde vom Deutschen Auswandererhaus und dem Amtsgericht Bremerhaven ausgerichtet. In der Reihe soll es um die Auseinandersetzung mit den rechtlichen Fragen von Migration gehen. Der interdisziplinäre Ansatz beleuchtet dabei historische und aktuelle Perspektiven.

In ihrer Begrüßungsrede hob SIMONE EICK, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses, die Verantwortung ihres Hauses hervor, nicht nur die historische Dimension der Auswanderung zu vermitteln. Vielmehr sei es das Ziel, das Deutsche Auswandererhaus als Forum für die aktuelle und politische Diskussion zum Thema Migration und als Vermittler dieser Thematiken hervorzuheben sowie Erkenntnisse aus einem grenzüberschreitenden Dialog zu gewinnen.

UWE LISSAU, Präsident des Amtsgerichts Bremerhaven und Mitorganisator der Tagung, zufolge ergebe sich die Bedeutung des Themas Migration durch einen Spannungsbogen zwischen Problemen und Chancen: Ein Richter befasse sich im Rahmen von Abschiebungen, Strafprozessen und Familienrechtsstreitigkeiten in erster Linie mit aktuellen, alltäglichen Problemen der Migration und Integration.

In ihrer Eröffnungsrede begrüßte die Bundesministerin der Justiz BRIGITTE ZYPRIES die Idee zu einer Tagung zum Thema Migration an einem für das Migrationsgeschehen in Deutschland zwischen 1830 und 1974 historisch bedeutenden Standort. Sie merkte an, dass in der aktuellen Debatte um Einwanderung, den Gründen, die Menschen bewegen ihr Land zu verlassen, wenig Bedeutung beigemessen würde. Die Tagung böte einen guten Anlass daran zu erinnern, dass viele Deutsche und Europäer vor nicht allzu langer Zeit selber als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asylsuchende“ galten. Die Gründe der Menschen sollten dabei nicht in Vergessenheit geraten. Außerdem sei es wichtig zu untersuchen, wie es den Auswanderern in der so genannten Neuen Welt ergangen sei und wie Integration dort funktionierte.
Sie verwies auf einen fundamentalen Kurswechsel in der deutschen Politik. Dabei hob sie die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 2000 und das Zuwanderungsgesetz von 2005 hervor und lobte positive Entwicklungen bei der Integration von Zugewanderten.
Sie sieht bildungspolitische Chancengleichheit als wichtigsten Faktor für eine erfolgreiche Integration, nicht nur für Kinder aus Zuwandererfamilien. Aber nicht allein nur der Bund, sondern auch die Länder, Kommunen, Wissenschaftler, Praktiker sowie die Zuwanderer selbst müssten Eigeninitiative und Engagement zeigen. Der bei der Tagung angestrebte historische und internationale Vergleich sei wichtig, um neue Erkenntnisse für die Migrationspolitik der Gegenwart zu gewinnen.

SIMONE EICK, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses, gab in ihrem Vortrag zunächst einen historischen Überblick zur Entwicklung des Rechts auf Freizügigkeit, das heute für die meisten Menschen in Deutschland als selbstverständlich gilt: erst ab 1867 wurde die Binnenwanderung legalisiert und ab 1897 das Recht auf Auswanderung für alle deutschen Reichsangehörigen gewährt. Als Folge wanderten im 19. Jahrhundert hunderttausende Deutsche illegal aus.
Anhand von fünf Lebenswegen deutscher Migranten konnte sie sehr diverse, durch Auswanderung oder Flucht entstandene Konflikte mit Gesetzen in Deutschland oder des Aufnahmelandes zwischen 1850-1950 aufzeigen. Eick betonte die unterschiedlichen Perspektiven auf Migration von Juristen und betroffenen Menschen: Juristisch betrachtet sei Migration keine zutiefst menschliche Verhaltensweise, sondern eine Möglichkeit, die bei Bedarf durch das jeweilige Recht auch eingeschränkt werden könne. Simone Eick sieht in den von ihr angeführten historischen Beispielen Berührungspunkte zur aktuellen Diskussionen: Sie geht davon aus, dass in den westlichen Einwanderungsländern die Debatte um kriminelle, politische, undokumentierte und hochqualifizierte Einwanderer weiter anhalten werde.

STEFAN MOHR, Aufsichtführender Richter am Amtsgericht Frankfurt/Main, präsentierte in seinen nüchternen Ausführungen über die Arbeit als Abschieberichter Statistiken zu Verfahren der letzten Jahre. Seiner Meinung nach kam es aufgrund des verstärkten Kontrollsystems und zunehmenden Zeitdrucks zu einem starken Anstieg der zu bearbeitenden Verfahren; ein Arbeitspensum, das von den wenigen Richtern kaum zu bewältigen sei. Er bedauerte, dass dieser juristische Bereich ein „stiefmütterliches Dasein“ friste, viele Positionen mit unerfahrenen Proberichtern besetzt seien und kaum Kommentarliteratur oder Veröffentlichungen zum Thema existierten.
Eine differenziertere Betrachtung des Themas ermöglichte die anschließende Diskussion, insbesondere durch den Wortbeitrag des auf Ausweisungs- und Abschiebungsrecht spezialisierten Anwalts PETER FAHLBUSCH. Fahlbusch kritisierte, dass zum einen in Deutschland Abschiebehaft auch nach dem neuen Zuwanderungsgesetz immer noch 18 Monate dauern kann. Zum Vergleich gab er an, dass in Frankreich Personen nicht länger als 29 Tage in Abschiebehaft festgehalten werden können. Zum anderen seien in Deutschland auch Kinder betroffen: seine jüngste Mandantin sei eineinhalb Jahre alt. Außerdem beklagt er, dass keine Statistiken existierten, wie viele der Menschen zu Unrecht im Gefängnis sitzen. Den Grund, warum es keinen lauten Aufschrei gebe, sieht er in der fehlenden Lobby für Undokumentierte und Asylsuchende.

Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte des 1871 gegründeten Vereins stellte GABRIELE MERTENS, Generalsekretärin des Raphaels-Werkes e. V., in ihrem Vortrag die Frage „Auswanderung – gesellschaftlicher Trend oder sozialpolitische Aufgabe?“. Die Beratungstätigkeit des Raphaels-Werkes e. V. und anderer Einrichtungen würden von einem Drittel aller aus Deutschland Auswandernden genutzt. Die Gründe für eine Auswanderung seien häufig gemischt; meistens jedoch seien es berufliche und wirtschaftliche Gründe. Im Jahr 2006 wurde die höchste Auswanderungszahl aus Deutschland seit 1954 verzeichnet sowie weniger Rückkehrer, was zu einem bis heute bestehenden negativen Wanderungssaldo geführt habe. Die Hauptzielländer liegen in der Europäischen Union. Mertens sieht für die Zukunft aufgrund der weltweit zunehmenden Mobilität einen steigenden Beratungsbedarf und erhofft sich eine bessere Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden, um bei der Rückkehrberatung ausländischer Ratsuchender erfolgreicher agieren zu können.

Zum Auftakt des Schwerpunktes am Freitag, „Rechtsvergleichende Länderberichte“, referierte die Richterin CÉCILE VILLALBA VRIGNON (Tribunal administratif de Paris) zum Ausländerrecht und der Einwanderungsgesetzgebung in Frankreich und der historischen Entwicklungen. Sie erklärte, dass in den letzten Jahren immer restriktivere Gesetzgebungen in Frankreich, mit immer härteren Maßnahmen des Französischen Amts für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (OFPRA), einhergingen. De facto stellten weniger Menschen in Frankreich einen Asylantrag, was sie auf den so genannten „Schengen-Effekt“ zurückführe. Allerdings nehmen Anträge auf Einspruch sehr stark zu, da es in Frankreich viele Non-Governmental Organizations gebe, die Betroffene beraten. Sie kritisierte, dass mit einer Verlagerung der Asylproblematik nach „Außen“, das heißt, außerhalb der eigenen Landesgrenzen, die bestehenden Probleme nicht gelöst werden könnten. Die neueste Gesetzesänderung aus dem Jahr 2006 in Frankreich ermöglicht es, Personen, die bei Kontrollen auf den Straßen ohne Papiere angetroffen werden, direkt abzuschieben. Menschen würden durch ständige Kontrollen in Schulen oder der Metro durch die Polizei kriminalisiert. Als „pervers“ bezeichnete Villalba Vrignon die Einführung einer neuen Quotenregelung, nach der die Präfekturen Prämien erhalten, wenn sie eine bestimmte Zahl an Abschiebungen im Jahr durchführen; 25.000 Abschiebungen im Jahr würden vorgegeben. Viele Fälle würden gar nicht mehr richtig geprüft, um die Quote zu erfüllen. Die Effizienz der Reform von 2006 sei ihrer Meinung nach sehr fraglich. Von den 25.000 geplanten Abschiebungen würden nur ein Viertel ausgeführt. Die Abschiebehäuser seien völlig überfüllt und die Kosten gewaltig. Außerdem plädierte sie für die Einrichtung von speziellen Richterstellen.

Für die Schweiz sprach ROLF EICHIN, Vorstand, Grenzgänger INFO e. V., berichtete über die Schweiz als Einwanderungsland und wies darauf hin, dass über 225.000 Arbeitnehmer täglich die Grenze passierten, um in der Schweiz einer Beschäftigung nachzugehen. Der Grund läge in den sehr hohen Lebenshaltungskosten in der Schweiz. Eine relativ problemlose Einwanderung beschränke sich allerdings auf Akademiker, Fach- und Führungskräfte.

Der Richter JOSÉ MANUEL SUÁREZ ROBLEDANO, Magistrado del Tribunal Superior de Madrid, machte zunächst auf die besondere geographische Lage Spaniens, der Nähe zu dem afrikanischen Kontinent, aufmerksam. Daraus ergäben sich spezielle Herausforderungen im Bereich der Einwanderung, die sich in speziellen Gesetzen widerspiegelten. In erster Linie sei es die Einwanderung aus afrikanischen Ländern sowie dem iberoamerikanischen Raum, mit der sich gesetzliche Regelungen auseinandersetzten. Er bezeichnete die spanische Einwanderungspolitik als die liberalste innerhalb der Europäischen Union. In seinem Vortrag betonte er die positiven Elemente der spanischen Gesetzgebung. So bestehe zum Beispiel eine allgemeine Gesundheitsfürsorge für alle Menschen – auch für Undokumentierte. Des Weiteren führte er die Legalisierungskampagne von 2004/2005, den Schutz Minderjähriger, das Recht auf schulische Bildung bis zum 18. Lebensjahr und eine Sozialversicherung auch für Undokumentierte und das Recht auf einen Anwalt an. Seiner Meinung nach herrsche eine gewisse Nachsicht und Toleranz, sobald sich die Einwanderer in Spanien aufhielten. Das Einbürgerungsgesetz sieht vor, dass Personen aus Südamerika bevorzugt, das heißt bereits nach zwei Jahren, die Staatsbürgerschaft erhalten können; ebenso die Nachkommen sefardischer Juden. Kritisch betrachtete er die Pläne des Innenministers die Abschiebehaft von heute maximal 40 Tagen auf zwei Monate auszuweiten. Des Weiteren glaubt er, dass sich die liberale Haltung in Spanien ändern und es eine Anpassung an restriktivere EU-Gesetze geben werde.

DAVID C. STEWART, Gesandter Botschaftsrat für konsularische Angelegenheiten der Vereinigten Staaten von Amerika, eröffnete seinen Vortrag mit einem historischen Abriss und den Entwicklungen der Einwanderungsgesetzgebung des Landes und die geschichtliche Verknüpfung von Deutschland und den USA: circa 58 Millionen Nachkommen deutscher Auswanderer lebten heute noch in den USA. Stewart beschrieb Einwanderung als Teil der Diplomatie: Konsularbeamte, die beim Außenministerium angesiedelt sind, führen Interviews, wenn es um Visa für die USA geht. Heute setze sich die Einwanderung in die USA aus Familienzusammenführung (der größte Teil), Arbeitsvisa, Diversity Visa (Green Card) und Flüchtlingen zusammen. Für die Zukunft betrachtet Stewart eine Einwanderungspolitik mit einem Punktesystem, angelehnt an das kanadische Modell, als sinnvoll, um verstärkt Hochqualifizierte ins Land zu holen. Bezüglich der Debatte um undokumentierte Einwanderer merkte Stewart an, dass täglich 185.000 Menschen die US-amerikanische Grenze passierten. Da es in den USA keine Anmeldpflicht gebe, könnten die Menschen, die einmal in den USA sind auch bleiben; außer sie würden kriminell. Insgesamt leben schätzungsweise elf Millionen Undokumentierte in den USA.

MATTHIAS STAUCH, Staatsrat beim Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, referierte zu der Einwanderungspolitik in Deutschland. Er stellte die These auf, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland sei. Einwanderung fände in Deutschland nur unsystematisch und auf Umwegen statt. Er bedauerte, dass es in Deutschland kein Einwanderungsgesetz gebe. Ein Einwanderungsgesetz könnte einen weiteren Zugang neben den bislang rechtlichen Möglichkeiten eröffnen. Stauch vertrat die Meinung, dass Deutschland an Attraktivität für potentielle Einwanderer verloren habe. Zugang nach Deutschland erfolge in immer geringerem Maße über das Asylrecht, das Aufenthaltsgesetz und das Bundesvertriebenengesetz.

JOCHEN OLTMER, Professor an der Universität Osnabrück, vertrat in seinem Vortrag „Migrationskontrolle vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ die These, dass die Genese der Migrationskontrolle nicht als ein linearer Prozess der Verschärfung zu verstehen sei, sondern vielmehr Wellenbewegungen die Entwicklung bis heute kennzeichnen. Ein Geflecht aus sozial- und arbeitsmarktpolitischen, wirtschafts- und nationalpolitischen, sicherheits- und außenpolitischen Interessen seien dafür die Faktoren gewesen. Dabei folgten Phasen restriktiver Migrationsregime auf Perioden geringer staatlicher Eingriffe. Solange es rechtliche Regelungen gäbe, sähen sich Menschen genötigt, diese zu brechen. In der historischen Forschung sei es schwierig, Informationen über die Aufnahmebedingungen der Einwanderer zu erhalten. In den meisten Fällen wurden Konflikte thematisiert, Normalität aber nicht dargestellt.

Die Fachtagung verdeutlichte, dass ein grenzüberschreitender Vergleich der Einwanderungsgesetzgebung Unterschiede, Gemeinsamkeiten und neue Perspektiven eröffnen kann – sowohl für den juristischen als auch für den historischen Ansatz. Jochen Oltmer fasste zusammen, dass Reisefreiheit ein soziales Privileg sei – heute wie vor 150 Jahren. Diese Aussage spiegelt sich auch in Gesetzen wider: Für Hochqualifizierte und privilegierte Menschen werden in den meisten Fällen Zugangsmöglichkeiten geschaffen, für alle anderen wird versucht, den Weg möglichst schwierig zu gestalten.

Kurzübersicht:

Begrüßung
Simone Eick (Direktorin des Deutschen Auswandererhauses)
Uwe Lissau (Präsident des Amtsgerichts Bremerhaven)

Ansprache
Brigitte Zypries (Bundesministerin der Justiz)

Grußwort des Schirmherrn
Ralf Nagel (Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen)

Dr. Simone Eick (Direktorin des Deutschen Auswandererhauses)
Gesetzeskonflikte bei deutschen Migranten 1850-1950 anhand von fünf Lebenswegen

Stefan Mohr (Aufsichtführender Richter am Amtsgericht Frankfurt/M.)
Schicksale aus der Abschiebehaft: richterliche Praxis im Ballungsraum Frankfurt/Main

Gabriele Mertens (Generalsekretärin des Raphaels-Werkes e. V.)
Auswanderung – gesellschaftlicher Trend oder sozialpolitische Aufgabe?

Rechtsvergleichende Länderberichte

Frankreich
Cécile Villalba Vrignon (Tribunal administratif de Paris)

Schweiz
Rolf Eichin (Vorstand, Grenzgänger INFO e. V.)

Spanien
José Manuel Suárez Robledano (Magistrado del Tribunal Superior de Madrid)

Vereinigte Staaten von Amerika
David C. Stewart (Gesandter Botschaftsrat für konsularische Angelegenheiten)

Deutschland
Matthias Stauch (Staatsrat beim Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen)

Prof. Dr. Jochen Oltmer (Universität Osnabrück)
Migrationskontrolle vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart


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